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Das Flüchtigste

Von

Tadle nicht der Nachtigallen
Bald verhallend süßes Lied;
Sieh, wie unter allen, allen
Lebensfreuden, die entfallen,
Stets zuerst die schönste flieht.

Sieh, wie dort im Tanz der Horen
Lenz und Morgen schnell entweicht;
Wie die Rose, mit Auroren
Jetzt im Silberthau geboren,
Jetzt Auroren gleich erbleicht.

Höre, wie im Chor der Triebe
Bald der zarte Ton verklingt.
Sanftes Mitleid, Wahn der Liebe,
Ach, daß er uns ewig bliebe!
Aber ach, sein Zauber sinkt.

Und die Frische dieser Wangen,
Deines Herzens rege Gluth,
Und die ahnenden Verlangen,
Die am Wink der Hoffnung hangen –
Ach, ein fliehend, fliehend Gut!

Selbst die Blüthe Deines Strebens,
Aller Musen schönste Gunst,
Jede höchste Kunst des Lebens,
Freund, Du fesselst sie vergebens;
Sie entschlüpft, die Zauberkunst.

Aus dem Meer der Götterfreuden
Ward ein Tropfe uns geschenkt,
Ward gemischt mit manchem Leiden,
Leerer Ahnung, falschen Freuden,
Ward im Nebelmeer ertränkt.

Aber auch im Nebelmeere
Ist der Tropfe Seligkeit;
Einen Augenblick ihn trinken,
Rein ihn trinken und versinken,
Ist Genuß der Ewigkeit.

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Gedicht: Das Flüchtigste von Johann Gottfried Herder

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Flüchtigste“ von Johann Gottfried Herder beschäftigt sich mit der Vergänglichkeit aller schönen und beglückenden Erscheinungen im Leben. Im Zentrum steht die Beobachtung, dass das Schönste und Kostbarste oft das Kurzlebigste ist. Herder verbindet Naturbilder, wie den Gesang der Nachtigall, das Erblühen und Verwelken der Rose oder das Entschwinden des Morgens, mit einer tiefergehenden Reflexion über das menschliche Streben nach Glück und Erfüllung.

Das Gedicht nutzt wiederkehrende Motive der klassischen Naturlyrik – etwa den „Tanz der Horen“ oder den „Silberthau“ – um das rasche Vergehen der Schönheit und der Lebensfreuden zu illustrieren. Auch innere Regungen wie „Sanftes Mitleid“ und der „Wahn der Liebe“ unterliegen dieser Vergänglichkeit. Herder beklagt nicht nur das Schwinden äußerer Reize wie die „Frische dieser Wangen“, sondern auch die flüchtige Natur von Hoffnungen und künstlerischem Streben. Alles bleibt ein „fliehend Gut“, das dem Menschen nicht dauerhaft zu eigen werden kann.

Trotz dieser Melancholie bietet das Gedicht eine Form der Versöhnung an. Im letzten Abschnitt deutet Herder an, dass selbst im „Nebelmeer“ der Vergänglichkeit ein „Tropfe Seligkeit“ existiert. Dieser eine Moment – das kurze, reine Erleben des Schönen – wird als ein „Genuß der Ewigkeit“ dargestellt. Damit verleiht das Gedicht der Flüchtigkeit der Freude zugleich eine besondere Kostbarkeit: Gerade weil sie so schnell vergeht, besitzt sie einen hohen Wert.

Insgesamt verhandelt „Das Flüchtigste“ auf poetische Weise ein zentrales Motiv der Weimarer Klassik: das Bewusstsein für die Vergänglichkeit menschlicher Glücksmomente und die Aufforderung, die Schönheit des Augenblicks als bleibenden Wert zu begreifen. Herders Sprache verbindet dabei klassische Harmonie mit einer leisen, fast resignativen Weisheit.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.