Heimatloses Gesicht
Meine tiefsten Trunkenheiten sind am frühen Morgen,
Wenn ich die Reise der Nacht vollendet.
Ich erwache und bin: immer wo anders gelandet.
Kann nicht sagen, was es ist, dass meine Sehnsucht
Sich breitet über das Land.
O Welt, die ich suche, fühlst du nicht:
Über dir meine hungernden Augen?
Klopfte mein Herz vor deiner Tür,
Vor deinem liebeumschleierten Hause?
Wohnst du so hoch, kleine Welt?
Ich fliege dir zu.
Wohnst du so tief, kleine Welt?
Ich falle dir zu,
Wo du auch sein magst.
Einmal trete ich über deine Schwelle,
Dann bin ich bei dir und frage dich zärtlich:
Bist du die Heimat? Nimmst du mich auf?
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Heimatloses Gesicht“ von Emmy Hennings kreist um das zentrale Thema der Heimatlosigkeit und der rastlosen Suche nach Zugehörigkeit. Das lyrische Ich schildert seine „tiefsten Trunkenheiten“ als Momente der frühen Morgenstunden – nach durchlebten Nächten, die es immer wieder „wo anders“ enden lassen. Hier wird das Gefühl der Entwurzelung deutlich: ein Leben ohne festen Ort, ohne feste Bindung, das von einer diffusen Sehnsucht durchdrungen ist.
Hennings verbindet in diesem Gedicht das Bild der Heimatlosigkeit mit einer existenziellen Suche nach einer „kleinen Welt“, einer Zuflucht. Die wiederholten Fragen und Bitten an diese „Welt“ wirken fast wie ein Zwiegespräch mit einer unerreichbaren Heimat oder einem ersehnten Ort des Ankommens. Die Unsicherheit – „Wohnst du so hoch?“ oder „so tief?“ – deutet auf das irrende und suchende Wesen der Sprecherin hin, die zwischen Aufstieg und Fall oszilliert, stets bereit, der Heimat entgegenzufliegen oder zu stürzen.
Das Gedicht lebt von einer fast kindlichen Hoffnung und gleichzeitig von einer tiefen Verzweiflung. Die Metaphorik des „über die Schwelle Tretens“ stellt eine Schwelle zwischen Fremdheit und Ankommen, zwischen der ruhelosen Welt und dem ersehnten Inneren dar. Das Gedicht endet mit der offenen, zärtlichen Frage „Bist du die Heimat?“, die die Unsicherheit, aber auch die tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit unterstreicht.
Insgesamt vermittelt „Heimatloses Gesicht“ die existenzielle Unruhe und das Gefühl der Isolation, das viele von Hennings’ Texten prägt. Die Sprache bleibt sanft und fragend, doch in ihr schwingt die Trauer einer Außenseiterin mit, die zwischen Rastlosigkeit und der Hoffnung auf ein „Zuhause“ in einer unbestimmten Welt gefangen ist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.