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Nachtgedanken

Von

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.

Die Jahre kommen und vergehn!
Seit ich die Mutter nicht gesehn,
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.

Mein Sehnen und Verlangen wächst.
Die alte Frau hat mich behext,
Ich denke immer an die alte,
Die alte Frau, die Gott erhalte!

Die alte Frau hat mich so lieb,
Und in den Briefen, die sie schrieb,
Seh ich, wie ihre Hand gezittert,
Wie tief das Mutterherz erschüttert.

Die Mutter liegt mir stets im Sinn.
Zwölf Jahre flossen hin,
Zwölf lange Jahre sind verflossen,
Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.

Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land,
Mit seinen Eichen, seinen Linden
Werd ich es immer wiederfinden.

Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.

Seit ich das Land verlassen hab,
So viele sanken dort ins Grab,
Die ich geliebt – wenn ich sie zähle,
So will verbluten meine Seele.

Und zählen muss ich – Mit der Zahl
Schwillt immer höher meine Qual,
Mir ist, als wälzten sich die Leichen
Auf meine Brust – Gottlob! Sie weichen!

Gottlob! Durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.

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Gedicht: Nachtgedanken von Heinrich Heine

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Nachtgedanken“ von Heinrich Heine thematisiert die schmerzvolle Trennung des lyrischen Ichs von seiner Mutter und von Deutschland, das hier als Ort von Heimat und Verlust erscheint. In der Nacht, einer Zeit der Reflexion und der Einsamkeit, überkommt den Sprecher ein Gefühl von Unruhe und Trauer. Besonders die Mutter steht im Mittelpunkt seiner Gedanken und löst einen tiefen Seelenschmerz aus, der ihn um den Schlaf bringt. Die Zerrissenheit zwischen der Distanz zu Deutschland und der emotionalen Bindung an die Mutter bestimmt die ersten Strophen.

Heine verknüpft die persönliche Sehnsucht nach der Mutter mit einem allgemeinen Gefühl der Entfremdung vom Heimatland. Trotz der Beschwörung von Deutschlands „ewigem Bestand“ klingt eine gewisse Bitterkeit durch, denn der eigentliche Schmerz liegt nicht im Verlust des Landes, sondern in der Angst um die sterbliche Mutter. Das Gedicht zeigt, wie das Vaterland zur Projektionsfläche familiärer Gefühle wird und das Heimweh sich besonders auf die enge Beziehung zur Mutter fokussiert.

In den späteren Strophen steigert sich das Motiv des Verlusts, als der Sprecher an die vielen Toten denkt, die er seit seiner Abwesenheit zu beklagen hat. Diese Bilder des Todes und der Qual münden fast in eine klaustrophobische Szene, in der „Leichen“ sich auf seine Brust zu wälzen scheinen. Die persönliche Trauer verbindet sich hier mit einer dunklen Vision des Exils, das von Tod und Verlust geprägt ist.

Im abschließenden Bild löst sich die düstere Stimmung überraschend: Das „französisch heitre Tageslicht“ und das Erscheinen der geliebten Frau bringen eine neue Hoffnung und Leichtigkeit. Damit kontrastiert Heine das melancholische Heimweh mit einer helleren, fast versöhnlichen Gegenwart. Die Frau verkörpert die Lebensfreude und Wärme des Exils, die im Gegensatz zu den „deutschen Sorgen“ steht. So endet das Gedicht trotz seiner Schwermut mit einem zarten Moment der Erlösung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.