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Das Kind am Brunnen

Von

Frau Amme, Frau Amme, das Kind ist erwacht!
Doch die liegt ruhig im Schlafe.
Die Vöglein zwitschern, die Sonne lacht,
Am Hügel weiden die Schafe.

Frau Amme, Frau Amme, das Kind steht auf,
Es wagt sich weiter und weiter!
Hinab zum Brunnen nimmt es den Lauf,
Da stehen Blumen und Kräuter.

Frau Amme, Frau Amme, der Brunnen ist tief!
Sie schläft, als läge sie drinnen!
Das Kind läuft schnell, wie es nie noch lief,
Die Blumen locken’s von hinnen.

Nun steht es am Brunnen, nun ist es am Ziel,
Nun pflückt es die Blumen sich munter,
Doch bald ermüdet das reizende Spiel,
Da schaut’s in die Tiefe hinunter.

Und unten erblickt es ein holdes Gesicht,
Mit Augen, so hell und so süße.
Es ist sein eig’nes, das weiß es noch nicht,
Viel stumme, freundliche Grüße!

Das Kindlein winkt, der Schatten geschwind
Winkt aus der Tiefe ihm wieder.
Herauf! Herauf! So meint’s das Kind:
Der Schatten: Hernieder! Hernieder!

Schon beugt es sich über den Brunnenrand,
Frau Amme, du schläfst noch immer!
Da fallen die Blumen ihm aus der Hand,
Und trüben den lockenden Schimmer.

Verschwunden ist sie, die süße Gestalt,
Verschluckt von der hüpfenden Welle,
Das Kind durchschauert’s fremd und kalt,
Und schnell enteilt es der Stelle.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das Kind am Brunnen von Friedrich Hebbel

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Kind am Brunnen“ von Friedrich Hebbel erzählt von einem Kind, das sich unbemerkt von seiner schlafenden Amme auf den Weg macht und in eine gefährliche Situation gerät. Das zentrale Motiv ist die unschuldige Neugier des Kindes, das von der Natur und insbesondere von den Blumen und dem Brunnen angelockt wird. Der Brunnen wird dabei zum Schauplatz einer kindlichen Begegnung mit der eigenen Spiegelung – eine erste, unbewusste Auseinandersetzung mit sich selbst und mit dem Unbekannten.

Hebbel nutzt in seinem Gedicht eine schlichte, volksliedhafte Sprache, die die Unschuld und Leichtigkeit der ersten Strophen unterstreicht. Die Natur ist freundlich: „Die Vöglein zwitschern, die Sonne lacht“. Doch schon bald kippt die Stimmung ins Unheimliche. Der tiefe Brunnen und das Schlafen der Amme symbolisieren die Abwesenheit von Schutz und führen das Kind in eine Situation, in der es sich selbst überlassen ist. Die Spiegelung des Kindes im Wasser wird zu einer verlockenden, aber auch gefährlichen Begegnung.

Die Gegenüberstellung von „Herauf! Herauf!“ und „Hernieder! Hernieder!“ verdeutlicht das Missverständnis und die Gefahr. Das Kind versteht den Spiegel nicht und deutet die Bewegung des Wassers als Aufforderung. Diese Szene verleiht dem Gedicht eine fast mythische Dimension – der Brunnen als Schwelle zwischen Welt und Unterwelt, zwischen Leben und Tod.

Am Ende gelingt es dem Kind, sich der Gefahr zu entziehen, doch es bleibt verängstigt und verstört zurück. Hebbel thematisiert hier nicht nur eine reale Gefahr, sondern auch das Erwachen der kindlichen Wahrnehmung für Unheimliches und Fremdes. Das Gedicht vereint Motive von Unschuld, Natur und Bedrohung und zeigt, wie dicht diese Pole in der menschlichen Erfahrung beieinanderliegen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.